Mit X Factor und The Voice begann sein Weg. Heute ist Jacob Lee als Sänger/Songwriter erfolgreich – und mit seinem eigenen Label Philosophical Records unabhängig. Kurz nach dem Ende der Lowly-Lyricist-Tour 2023 sprach ich mit dem Australier über seinen Weg, seine Songs und seinen Blickwinkel auf die Musikbranche.
Einmal quer durch Europa, 17 Länder, 25 Konzerte: Die Lowly-Lyricist-Tour war lange geplant – und musste aufgrund der Coronavirus-Pandemie Jahr für Jahr verschoben werden. 2023 sollte es dann endlich klappen. „Ehrlich gesagt, es fühlte sich an wie eine Erleichterung“, endlich zu touren, erklärte Jacob Lee mir im Gespräch. „Ich war mir nicht ganz sicher, wie viele Menschen sich drei Jahre lang gedulden würden“, fügte er an, „Aber als ich auf der Bühne sagte ‚Wir haben es endlich geschafft‘, sah ich viele Leute nicken, als würden sie verstehen, wie viele Jahre ich versucht hatte, zurückzukommen.“
Jedes einzelne Konzert sei sehr unterschiedlich, aber auf seine eigene Art und Weise sehr speziell gewesen. London, Birmingham und Paris seien viel größer gewesen, als Jacob es erwartet hatte. „Insgesamt würde ich Bukarest als primäre Erinnerung wählen.“ Die Menschen dort würden seine Musik einfach feiern – „und ich bin mir nicht einmal sicher warum“, sagte der Sänger. Schon 2019 bei seiner ersten Headliner-Tour sei das Publikum in Rumänien herausgestochen. „Jeder kannte die Songtexte. Ich habe zwei Shows hintereinander ausverkauft. Und ich war dort noch nie zuvor. Deshalb dachte ich mir: ‚Wie zur Hölle wisst ihr, wer ich bin?‘“
Dabei ist es Lees extreme Bühnenpräsenz kombiniert mit ruhigen, gefühlvollen Popsongs, die es ausmachen und mit denen er das Publikum nahezu mühelos zu erreichen scheint. Zudem sprechen die immense Anzahl an Views auf YouTube (über 276 Millionen) und Streams auf Spotify (über 270 Millionen) eine klare Sprache. „2023 nach Bukarest zurückzukommen, fühlte sich fast an wie eine Reunion – das liebte ich. Es ist ein Ort, der mir sehr am Herzen liegt“, fasste er zusammen.
Jacob Lee bei The X Factor und The Voice in Australien: „Du bist derjenige, mit dem wir arbeiten wollen“
Jacobs Weg in die Musikbranche begann schon einige Jahre vor der Lowly-Lyricist-Tour. Wie nicht wenige andere versuchte auch er in jungen Jahren sein Glück bei Talentshows. 2011, im Alter von 17 Jahren, ging Jacob bei The X Factor Australia an den Start, bevor er drei Jahre später – nach einer kurzen Erfahrung in einer Band namens Oracle East – bei The Voice Australien mitmachte und mit will.i.am als Coach arbeitete. Rückblickend sagte der 28-Jährige: „Ich verstehe nun, wie viele dieser Realityshows funktionieren. Es ist offensichtlich, aber es ist nichts für die Künstler. Es ist eine Realityshow, die interessant sein muss für die Zuschauer– und das ist auch total okay. Denn das ist es auch, was es sein sollte.“
Nachdem er die TV-Show nach den Sing-Offs verlassen musste, kam für den jungen Musiker ein Stein ins Rollen. Der Weg, sich als Künstler außerhalb einer Talentshow zu beweisen, schien geebnet. „Es gab eine Person, die mir viele wirklich wichtige Dinge versprochen hat. Er war in der Branche sehr groß und arbeitet mit einem der Juroren zusammen. Als ich aus der Show raus war, meinte er ‚Wir wollen dich unter Vertrag nehmen‘. Ich dachte mir ‚Wow‘. Ich war 18 Jahre alt und habe mich sehr darüber gefreut, weil einer der größten Künstler und sein Team mich ansahen und sagten ‚Du bist derjenige, mit dem wir arbeiten wollen‘.“
Der Kontakt sei dann zunächst auch tatsächlich bestehen geblieben. Doch nach einigen Monaten meldeten sie sich nicht mehr bei ihm. Bis Jacob 2021 – also rund sieben Jahre später – plötzlich eine Nachricht via Social Media erhielt. „Als er sah, dass ich erfolgreich war, kontaktierte er mich auf Instagram und ich antwortet ihm nicht“, erklärte Jacob – ohne einen konkreten Namen zu nennen. Die Erfahrung bei The Voice und die „bittere Enttäuschung“ im Anschluss, blieben nicht ohne Lerneffekt für Jacob. „Ich habe viel über Selbsterhaltung gelernt, mir selbst zu vertrauen und mich auf niemanden zu verlassen. Mit Menschen zu arbeiten ist fantastisch, aber wenn man sich in einem Sinne auf sie einlässt, sodass man ohne sie nicht mehr vorankommen kann, ist das wirklich beängstigend.“
Jacob Lee macht sich mit eigenem Label komplett unabhängig
Die Folge der Erfahrung: Heute ist Jacob ein unabhängiger Künstler – frei von externem Management oder Label. 2017 ging er einen Schritt, wie ihn nur weniger Musiker wagen. Jacob machte sich mit seinem eigenen Plattenlabel Philosophical Records komplett unabhängig.
Seinen Start als Musiker markierte jedoch seine erste Single Chariot, die er bereits im Jahr 2014 veröffentlichte. 2015 folgte dann die EP Sine Qua Non, auf der auch einer seiner bis heute erfolgreichsten Songs erschien: Ghost.
Jacob schrieb ihn einst für seinen Bruder, wie er mir erzählte, und nutze dessen Erlebnisse als Inspiration. „Der ganzen Familie war nicht bewusst, wie schlimm er in der Schule gemobbt wurde, weil er es uns nicht erzählte“, erklärte mir der Künstler den Hintergrund des Songs. Sein Bruder war in der Schule drei Klassen über ihm. „Weil ich so jung war, habe ich es auch nicht gesehen. Als er seinen Abschluss machte, fühlte er sich wohl dabei, es uns zu erzählen. Ghost entstand in der Nacht, in der er sich uns öffnete. Ich spreche im Song darüber, dass er sich die meiste Zeit unsichtbar fühlte, dass die Menschen ihn nicht wirklich als das sahen, was er war.“
„Ghosts, I’ll make sure they all see
The kind of man that you can be
Open your lungs and inhale my words
I see in your eyes a reflection of hurt
The book in your mind hasn’t come to an end
There’s always a page that hasn’t been read.“
Ghosts – Jacob Lee
Mit über elf Millionen Views auf Spotify (Stand: Mai 2023) ist Ghost heute der viert meistgehörte Song von Jacob. Gleichzeitig ist der Track ein gutes Beispiel dafür, auf welche Art und Weise Songs des 28-Jährigen entstehen können. Hin und wieder, so erklärte mir Jacob, dienten ihm Erlebnisse von Freunden oder der Familie als Inspiration für seine Texte. „Aber normalerweise, wenn ich einen Song schreibe, habe ich vorher keine Ahnung, was ich genau schreiben werde. Bezogen auf das Thema eines Songs, lasse ich einfach Worte geschehen“, sagte er lachend.
„Sobald ich etwas gut finde oder es mein Interesse weckt, folge ich dem und schaue, was passiert“, so der Songwriter, der großen Wert auf seine Songtexte im Allgemeinen legt. „Meine Musik ist sehr lyrisch“, betonte er. Er sei einfach besessen davon, mit Hilfe seiner Songs etwas Echtes zu schaffen. Etwas, mit dem sich die Zuhörer identifizieren können. Daher ist auch Jacobs Blick auf die Entwicklung der Musikbranche insgesamt eher kritisch angehaucht.
Sänger/Songwriter Jacob Lee über Musikbranche: Hauptziel ist Viralität
„Heute geht man in ein Studio und das Hauptziel ist es, etwas zu kreieren, das viral geht“, sagte Jacob im Gespräch mit Bezug auf die Zusammenarbeit von Künstlern mit Labeln und Managements. „An Viralität ist nichts auszusetzen, aber wenn du versuchst, der Inbegriff eines Künstlers zu sein, ist es ziemlich schwierig, jeden Tag in einem Raum zu sitzen und zu sagen: ‚Nun, lass uns etwas schaffen, das die Leute einfach mitsingen und zu dem sie Videos machen können.‘“ Daran – wie es etwa auf TikTok der Fall ist – sei er selbst nie sehr interessiert gewesen. Es gebe zwar auch viele Innovationen, doch die Seite mit Labels und Managements, die Sängern erklärten, was sie etwa auf TikTok oder YouTube Shorts posten müssten, um erfolgreich zu sein, hasse er.
Mit eigenem Label und der Möglichkeit seine Musik über NFTs (Non fungible Token) zu verkaufen, ist Jacob in der Position, sich als Künstler so zu vermarkten, wie er es persönlich möchte. Neue Musik ist indes bereits in Arbeit. „Ich schreibe gerade die nächsten Songs für dieses Album“, verriet er mir in Bezug auf das Album Lowlyland, von dem bereits einige Singles wie etwa Easy for You erschienen sind. Er wolle noch fünf weitere Songs veröffentlichen und sich dann an ein weiteres Album setzen.
„Und in der Zwischenzeit“, so Jacob, „baue ich Lowlylabs, mein Web3-Unternehmen, auf“, erklärte er mir. Mit zwei eigenen Firmen und seiner Musik ist von dem 28-Jährigen also auch in Zukunft sicherlich einiges zu hören. Und wenngleich er mit Web3 und NFTs doch einen Weg einschlägt, der sich vordergründig im World Wide Web abspielt, müssen sich Fans keine Sorgen machen. Denn, so der Australier im Gespräch, Live-Konzerte und die Interaktion mit Fans vor Ort könnten durch nichts getoppt werden. Pläne für neue Konzerte gibt es bereits: Er wolle so schnell wie möglich nach Europa und Großbritannien zurückkehren, gleichzeitig arbeite er an Konzerten in Australien, verriet Jacob mir.
Artikel: Michelle Brey
Fotos: Philosophical Records/Jacob Lee